Grenzsituationen im Gesundheitsbereich
Hintergrund: Grenzsituationen sind für Karl Jaspers existenzielle Erschütterungen, die zu einer neuen Sicht auf die Welt führen. Patientinnen und Patienten, die schweres körperliches oder seelisches Leid ertragen müssen oder aufgrund einer unheilbaren Erkrankung mit dem eigenen Tod konfrontiert sind, können ihre Situation als Grenzsituation im Sinne von Jaspers erfahren.
Die Studie: In einer qualitativen Studie wurde untersucht, wie Patientinnen und Patienten Grenzsituationen erleben und wie betreuende Personen in Medizin, Psychotherapie, Pflege und Sozialarbeit die Grenzsituationen ihrer Patientinnen und Patienten wahrnehmen.
Fragestellung: Das Projekt hat zwei Ziele:
- Zunächst geht es darum, das Erleben von Grenzsituationen besser zu verstehen. Wie fühlt es sich für Menschen an, eine Grenzsituation zu erfahren, und wie verändert sich durch diese Erfahrung die Sicht auf sich selbst und auf die Welt?
- Darauf aufbauend soll untersucht werden, was die Einsichten über das Erleben von Grenzsituationen für den Umgang mit betroffenen Patientinnen und Patienten bedeuten. Wie lassen sich betreuende Personen für den Umgang mit Menschen in Grenzsituationen sensibilisieren?
Methode: Diese Forschungsfragen sollen mit Hilfe eines qualitativen phänomenologischen Interviewansatzes untersucht werden. Die Interviews folgen einem halbstrukturierten Vorgehen mit offenen Fragen darüber, wie Patientinnen und Patienten ihre Situation erleben und wie diese Situation von Personen wahrgenommen wird, die diesen Personenkreis betreuen.
Ziel: Die gewonnenen Erkenntnisse sollen verantwortlichen Akteuren im Gesundheitsbereich zur Verfügung gestellt werden und damit zu einer besseren Unterstützung von Patientinnen und Patienten in Grenzsituationen beitragen.
Ergebnisse: Es gab einige signifikante Ergebnisse zum Erleben von Grenzsituationen. Patientinnen und Patienten nehmen sich oft als außerhalb von Normalität wahr und fühlen sich entfremdet. Entsprechend gibt es eine bessere Verbindung zu Patientinnen und Patienten in Grenzsituationen, wenn betreuende Personen selbst Grenzsituationen erlebt haben. Außerdem spielen Intuition und Spüren im Umgang mit Patienten in Grenzsituationen eine wichtige Rolle.
Philosophisch interessant ist, dass Patientinnen und Patienten und betreuende Personen andere Perspektiven auf scheinbar Selbstverständliches haben. Dinge, auf die wir uns ganz normal verlassen, werden aus der Perspektive von Grenzsituationen geradezu als Wunder erlebt. Sowohl Patientinnen und Patienten als auch betreuende Personen sprechen außerdem von einer neuen Einstellung zum Leben, die sich mit den Worten Gelassenheit, Dankbarkeit und Wertschätzung beschreiben lässt. Und es wurde immer wieder von besonderen Einsichten berichtet. So weiß man zum Beispiel schon immer um die eigene Endlichkeit, die man aber in Grenzsituationen auf eine neue und tiefere Weise versteht.
Als Teil des Forschungsprozesses wurden zwei kurze Ausschnitte aus den Interviews mithilfe von kunstinformierter Forschung (Arts informed research, kurz: AiR) interpretiert; dazu malte eine interdisziplinäre Gruppe individuelle Bilder sowie ein gemeinsames Bild. Am Ende diskutierte die Gruppe den Prozess und die Ergebnisse.
- Gutschmidt, R (2024) Grenzsituationen im Gesundheitsbereich. Spiritual Care 13(2): 191-194. https://doi.org/10.1515/spircare-2024-0002
- Frick, Gutschmidt & Liebert (2025) Sprache in Grenzsituationen. Eine interdisziplinäre Untersuchung von Patienteninterviews in Münchner Kliniken
- Mächler, Vogel, Frick, Rastetter, Schlemmer & Gutschmidt (2025) Arts informed research based on spiritual care research interviews. Workshop Report
- Frick & Gutschmidt (Hrsg.) (2025) Existential elucidation. Karl Jaspers and spiritual care
- Gutschmidt & Frick (2025) Boundary situations: Karl Jaspers' contribution to theory and practice of spiritual care
- Gutschmidt (2024) Grenzsituationen im Gesundheitsbereich.
- Frick & Gutschmidt (2023) Wir werden mit dem Geheimnis der Existenz nie fertig.
Weitere Publikationen sind in Vorbereitung.